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Seneca, De brevitate vitae 1,2 - 2,3

Nütze deine Zeit!

Non exiguum temporis habemus, sed multum perdimus. Satis longa vita est et in maximarum rerum consummationem large data, si tota bene collocaretur.1 sed ubi vita per luxum ac neglegentiam diffluit, ubi nulli bonae rei impenditur, ultima demum necessitate2 cogente eam, quam ire non intelleximus, transisse sentimus.

Ita est: Non accipimus brevem vitam, sed facimus,3 nec inopes eius, sed prodigi sumus. Sicut amplae et regiae opes, ubi ad malum dominum pervenerunt, momento dissipantur,4 at modicae, si bono custodi traditae sunt, usu crescunt: ita aetas nostra bene disponenti multum patet.

Quid de rerum natura querimur? Illa se benigne gessit: Vita, si uti scias, longa est. At alium insatiabilis tenet avaritia, alium in supervacuis laboribus operosa sedulitas; alius vino madet, alius inertia torpet; alium defatigat ex alienis iudiciis suspensa semper ambitio, alium mercandi praeceps cupiditas circa omnes terras, omnia maria spe lucri ducit; quosdam torquet cupido militiae, numquam non aut alienis periculis intentos5 aut suis anxios; sunt, quos ingratus superiorum cultus6 voluntaria servitute consumat; plerosque nihil certum sequentes vaga et inconstans et sibi displicens7 levitas per nova consilia iactavit; quibusdam nihil, quo cursum derigant, placet, sed marcentes oscitantesque fata8 deprehendunt, adeo ut verum esse non dubitem, quod apud maximum poetarum more oraculi dictum est: "Exigua pars est vitae, qua vivimus." Ceterum quidem omne spatium non vita, sed tempus est.

1 collocare: verwenden;   2 ultima necessitas: Tod;   3 facere: dazu machen;   4 dissipare: vergeuden; 5 alienis periculis intentus: darauf bedacht, Fremden Gefahren zu bereiten;  6 superiorum cultus: Ergebenheit gegenüber Vorgesetzten; 7 sibi displicens: mit sich selbst unzufrieden; unbefriedigt; 8 fata, orum: Tod

 

Übersetzung

Nicht wenig Zeit haben wir, aber viel vergeuden wir. Unser Leben ist lang genug und zur Vollendung der größten Taten reichlich bemessen, wenn es im ganzen gut verwendet würde. Aber sobald das Leben in Genusssucht und Nachlässigkeit zerrinnt, sobald es für keinen guten Zweck eingesetzt wird, merken wir erst unter dem Zwang des Todes, dass es vergangen ist, obwohl wir nicht bemerkten, dass es vergeht.

So ist es: Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern machen es dazu, wir haben keinen Mangel daran, sonder gehen nur verschwenderisch damit um. Sowie große und königliche Schätze, sobald sie an einen schlechten Herrn geraten sind, augenblicklich vergeudet werden, aber bescheidene, wenn sie einem guten Hüter übergeben worden sind, bei ihrem Gebrauch anwachsen: So dauert auch unser Leben lange für einen, der es gut einteilt.

Warum klagen wir über die Schöpfung? Jene hat sich großzügig gezeigt: Das Leben ist lang, wenn man es zu nützen versteht. Aber einen hält unersättliche Habsucht gefangen, einen anderen in unnötigen Arbeiten geschäftige Emsigkeit; der eine ist vom Wein betrunken, ein anderer von Trägheit gelähmt; den einen erschöpft ein immer von fremdem Urteil abhängiger Ehrgeiz, den anderen führt die gefährliche Leidenschaft Handel zu treiben rings um alle Länder und Meere in der Hoffnung auf Gewinn; einige quält die Leidenschaft für den Kriegsdienst, immer entweder darauf bedacht, Fremden Gefahren zu bereiten oder besorgt um die eigenen. Es gibt auch Menschen, die undankbare Ergebenheit gegenüber Vorgesetzten in freiwilliger Sklaverei verzehrt. Die meisten, die kein bestimmtes Ziel verfolgen, hat unsteter, unbeständiger und unbefriedigter Leichtsinn durch neue Pläne getrieben; manchen gefällt nichts, wohin sie ihr Streben richten, sondern matt und teilnahmslos überrascht sie der Tod, so sehr, dass ich keine Bedenken trage, dass das wahr ist, was beim größten aller Dichter in der Art eines Orakels gesagt worden ist: "Es ist nur ein winziger Teil unseres Lebens, in dem wir leben." Die ganze übrige Zeit allerdings ist nicht Leben, sondern Zeit.


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