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Plinius, Epistulae VI 20 (Auswahl)

Persönliche Erlebnisse des jüngeren Plinius beim Vesuvausbruch 79 n. Chr.

C. PLINIUS TACITO SUO S. 

Praecesserat per multos dies tremor terrae, minus formidolosus quia Campaniae solitus; illa vero nocte ita invaluit, ut non moveri omnia, sed verti crederentur. Irrupit1 cubiculum meum mater; surgebam invicem, si quiesceret,2 excitaturus.3 Tum excedere oppido visum.4 Egressi tecta consistimus. Multa ibi miranda, multas1 formidines patimur. Nam vehicula quae produci iusseramus, quamquam in planissimo campo, in contrarias partes agebantur, ac1ne lapidibus quidem fulta in eodem vestigio quiescebant.  Praeterea mare in se resorberi et tremore terrae quasi repelli1 videbamus. Certe processerat litus, multaque animalia maris siccis harenis detinebat. Ab altero latere nubes atra et horrenda, ignei spiritus tortis vibratisque1discursibus rupta, in longas flammarum figuras dehiscebat; fulguribus illae et similes et maiores erant.

Tum mater orare, hortari, iubere, quoquo modo fugerem:5 posse6 enim iuvenem, se   et   annis   et corpore gravem bene7 morituram,8 si mihi causa mortis non fuisset.9 Ego contra10 salvum me nisi una non futurum; dein manum eius amplexus addere11 gradum cogo. Paret aegre incusatque1 se, quod me moretur.                                       

Iam cinis, adhuc tamen rarus. 'Deflectamus'12 inquam 'dum13 videmus, ne in via strati14 comitantium turba in tenebris obteramur!'15   

Vix consederamus, et16 nox - non qualis illunis aut nubila, sed qualis in locis clausis lumine exstincto. Audires ululatus feminarum, infantum quiritatus, clamores virorum; alii parentes alii liberos alii coniuges vocibus requirebant,17 vocibus noscitabant;17 hi suum casum, illi18 suorum miserabantur; erant, qui metu mortis mortem precarentur;19 multi ad deos manus tollere, plures nusquam iam deos ullos8 illamque noctem aeternam et novissimam mundo interpretabantur. Nec defuerunt, qui fictis mentitisque20 terroribus21 vera pericula augerent.                                                                                                                                

                                                                                                                                                               

Vale !

1 cubiculum irrumpere: ins Zimmer stürzen; 2 quiesceret = dormiret; 3 excitare: aufwecken (erg.: eam = matrem); 4 erg.: visum (est): es schien gut; 5 (ut) …fugerem; 6 stelle: me enim iuvenem fugere posse; 7 bene = libenter; 8 erg,: esse;  9 im D.: gleichzeitig;  10 ego contra: ich erwiderte – stelle: me salvum non futurum nisi unā (= cum matre)  11 gradum addere: den Schritt bexchleunigen; erg.: 12 erg.: viā; 13 dum: solange noch; 14 sterni: sich niederlassen; 15 obterere: zertreten (in der Dunkelheit); 16 et: und schon (wurde es); 17 Imperf. de conatu (vocibus: an den Stimmen); 18 illi (casum) suorum; 19 mortem precari: den Tod herbeiwünschen; 20 mentitus 3: erlogen; 21 terror, oris: Schrecken(sgeschichte)

Plinius grüßt seinen Tacitus

Vorangegangen war durch viele Tage ein Erdbeben, weniger schrecklich, da man das in Campanien gewohnt war; in jener Nacht aber wurde es so stark, dass man glaubte, es bewege sich nicht (nur) alles, sondern drehe sich um. Meine Mutter stürzte in mein Schlafzimmer, ich dagegen wollte gerade aufstehen, um sie zu wecken, falls sie (noch) schliefe. Jetzt erst schien es gut, sich aus der Stadt zu entfernen. Wir schritten aus den Häusern heraus und hielten dann an. Viel Sonderbares, viel Furchterregendes erleben wir dort. Denn die Wagen, die wir vorführen hatten lassen, rollten, obwohl auf ganz ebenem Feld, in alle Richtungen, und nicht einmal nachdem man Steine vor die Räder geschoben hatte, blieben sie an der selben Stelle.  Außerdem sahen wir, wie sich das Meer selbst verschlang und durch das Erdbeben gleichsam wieder ausgestoßen wurde. Jedenfalls war der Strand vorgerückt und hielt viele Meerestiere auf dem trockenen Sand fest. Auf der anderen Seite  wurde eine schwarze, schaurige Wolke von feurigen geschlängelten und zickzackförmigen Linien zerrissen und spaltete sich in lange Flammengebilde; jene waren Blitzen ähnlich, aber größer.

Da bat meine Mutter, mahnte, befahl, ich solle auf irgendeine Weise fliehen, denn ich als junger Mann könne es, sie sowohl durch ihre Jahre als auch durch ihren Körper schwerfällig, werde ruhig sterben, wenn sie nicht die Ursache meines Todes sei. Ich dagegen: ich wolle nicht am Leben bleiben ohne sie; darauf fasse ich ihre Hand und zwinge sie, ihren Schritt zu beschleunigen. Sie gehorcht widerwillig und klagt sich an, dass sie mich behindere.

Schon fiel Asche, zunächst noch vereinzelt. "Lasst uns vom Weg abbiegen", sagte ich, "solange wir (noch) sehen, damit wir nicht, wenn wir uns auf der Straße niedergelassen haben, vom Gedränge der Begleiter im Dunkeln zertrampelt werden!" Kaum hatten wir uns niedergelassen, ist schon Nacht, aber nicht wie eine mondlose, wolkenverhangene, sondern wie eine in geschlossenen Räumen, nachdem das Licht gelöscht worden war. Man konnte das Geheul der Frauen, das Jammern der Kinder und das Schreien der Männer hören, die einen versuchten ihre Eltern, die anderen ihre Kinder, wieder andere die Ehegatten zu suchen  und sie an der Stimme zu erkennen; diese beklagten ihr eigenes Unglück, jene das ihrer Angehörigen; es gab auch welche, die sich aus Angst vor dem Tod, den Tod herbeiwünschten; viele erhoben die Hände zu den Göttern, noch mehr aber erklärten, es gäbe nirgends mehr Götter, und jene Nacht sei die ewige und die letzte für die Welt. Auch fehlten nicht solche, die mit erfundenen, erlogenen Schreckensgeschichten die wirklichen Gefahren noch vergrößerten.

Lebe wohl

 


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